Ein failed state zwischen Fundamentalismus und Hoffnung
Afghanistan ist ein Binnenstaat mit ungefähr 39 Millionen Einwohnern. Das einst von Farben und Kultur dominierte Leben ist mittlerweile nur noch ein Schatten seiner Selbst. Grund dafür ist eine islamisch-fundamentalistische Bewegung namens Taliban, die das Land unter ihre Kontrolle bringen will. Sie sind das Produkt eines mehrere Jahrzehnte andauernden Krieges.
Um zu verstehen wie Afghanistan zum failed state geworden ist und wer die Taliban sind, muss man sich zunächst die Geschichte des Landes anschauen. In den 1970er Jahren gab es in Afghanistan mehrere politische Umbrüche. 1964 war das Land eine konstitutionelle Monarchie regiert von König Zahir Schah. Dieser wurde neun Jahre später vom früheren Premierminister Mohammes Daod und pro-sowjetischen Kräften gestürzt.1
Das Ziel: Eine sowjetische Besetzung. Dieses erreichten sie im Dezember 1979 als sie in Afghanistan einfielen und eine sozialistische Marionettenregierung unter Babrak Karmal einsetzten. Die Bevölkerung hatte sehr darunter zu leiden, was dazu geführt hat, dass sich den Sowjets afghanische Mudschaheddin – auch Kämpfer des Islams genannt – entgegenstellten. Das Resultat: Ein zehnjähriger Guerillakrieg, an dessen Ende es den afghanischen Kämpfern gelang, die Sowjetarmee aus Afghanistan zu vertreiben.3
Ungefähr 1 Millionen Menschen verloren während des Krieges ihr Leben. Zurück blieben Trauer, Frustration und Zerstörung. Die Vereinten Nationen, besonders die USA, versprachen den Afghanen, bei dem Wiederaufbau ihrer Nation zu helfen, jedoch schafften sie es nicht, ihre Versprechen einzuhalten.2
Die Zeit nach und während des Krieges war prägend für die Entstehung der Taliban, welche als eine Reformbewegung begann. Einer der Begründer war Mullah Omar, ein Mann, der durch den Krieg mit den Sowjets ein Auge verlor und weitere körperliche Verletzungen davontrug. Er stammt wie fast alle Taliban vom Land. Um genau zu sein gehört er dem Stamm der Paschtunen an – eine Region im Sünden von Afghanistan.3
Die meisten Taliban wuchsen in pakistanischen Flüchtlingslagern auf. Sie erhielten ihre Bildung in den Mandrassas, den Koranschulen. Die Mehrheit kommt aus den konservativen und am wenigsten von Grundbildung berührten Gegenden im Süden des Landes – den Paschtunen. Die Frauen in diesen Dörfern sind meist zutiefst verschleiert und gehen auch nicht zur Schule.3
Was ist die Ideologie der Taliban?
Ihr Glaube beruht auf einer strengen und nicht flexiblen Auslegung der Scharia – das islamische Recht. Sie streben ein Leben an, in dem kein Platz für Individualität, Kultur, Bildung oder Freude ist.
Die Afghanen sind zwar ein sehr religiöses Volk, das allerdings zugleich auch sehr vielfältig ist. Daher wurden die Taliban von ihren Landsleuten auch als ein völlig fremdes und andersartiges Phänomen wahrgenommen. Viele leben nach dem Koran, in dem geschrieben steht, dass es keinen Zwang in der Religion gibt. Die Taliban verfolgen diese Zeilen jedoch nicht. Für sie gibt es nur einen richtigen Weg und nur ein richtiges Verständnis: Ihr Eigenes.
Wer ihre Ansichten nicht teilt oder befolgt, wird bestraft. Zu den Strafen zählen neben körperlicher Gewalt auch öffentliche Hinrichtungen. Ihre Gesetze sind mehr als menschenrechtsverletzend. Frauen werden jegliche Art von Rechten abgesprochen. Sie dürfen weder die Schule besuchen noch alleine das Land verlassen. Seit letzter Woche dürfen sie zudem keine Parks mehr besuchen.5
Frauen müssen sich komplett verhüllen, sprich mindestens einen Hijab tragen. Gemeint ist damit nicht nur nicht nur ein normales Kopftuch, sondern die zusätzliche Verschleierung des Gesichts und des restlichen Körpers. Das Einzige, was Frauen nicht verschleiern müssen, sind ihre Augen.5
Wann erschienen die Taliban zum ersten Mal auf der Bildfläche?
1996 nahmen sie die Hauptstadt Kabul ein und blieben bis 2001 vor Ort. In diesem Zeitraum trafen sie auf Osama bin Laden und verbündeten sich mit ihm.3
Nach dem Anschlag am 11. September 2001 wurden die Taliban von den Amerikanern angegriffen und besiegt. Sie flohen in ihre Dörfer im Süden Afghanistans und in ihre ehemaligen Koranschulen in Pakistan, wo sie von militanten Politikern und Mullahs aufgenommen wurden, die ihre extremistischen Ansichten teilten. Es gelang ihnen, ihre bewaffnete Präsenz bis 2004 wiederherzustellen, was einen Guerillakrieg gegen die US- und NATO Truppen nach sich zog.3 – Die USA sind im Konflikt in Afghanistan federführend – In den folgenden Jahren blieben die Taliban geduldig und verfolgten die Militärmaschinerie der USA.
Die Taliban setzten ihren Zermürbungskrieg fort, bis sie von den Amerikanern zu Gesprächen über die Beendigung des Krieges überredet wurden. Die USA hatte kein großes Interesse mehr an Afghanistan und wollte das Land verlassen. Die Vereinten Nationen waren davon überzeugt, dass es in dem Krieg gegen die Taliban zu einer Pattsituation gekommen sei und es keine militärische Lösung mehr gab.3Jedoch irrten sie sich. In Wirklichkeit waren die Taliban bereits dabei, Afghanistan Stück für Stück zurückzuerobern. Im Februar 2020 kam es zu einem Abkommen, das die Taliban im Golfstaat Qatar mit amerikanischen Unterhändlern schlossen. Es war kein Friedensvertrag, auch wenn er als solcher getarnt war. In Wirklichkeit war es eine Abzugsvereinbarung, welche die geordnete Evakuierung der US-Truppen aus Afghanistan bis September 2021 vorsah.3
Die Vereinten Nationen hofften, dass sie den Konflikt der neu aufgebauten afghanischen Armee überlassen könnten und diese die Stellung halten würde bis die Regierung in Kabul und die Taliban zwecks einer Machtteilung über eine afghanische Koalitionsregierung verhandeln würden.3
Vor einem Jahr im September 2021 war es soweit. Der Zeitpunkt war gekommen, an dem sich die Vereinten Nationen aus Afghanistan verabschiedeten. Die Taliban nutzen die Chance und starteten eine Offensive, die zu einer schnellen Auflösung der afghanischen Armee führte.3
Es gelang ihnen relativ schnell, ganze Städte und Provinzen einzunehmen und die Straßen zu kontrollieren. Die Armeeeinheiten ergaben sich kampflos. Das Ziel der Taliban – die Hauptstadt Kabul. Am 15. August 2021 gelang es der Taliban, ihr Ziel zu erreichen. Sie eroberten innerhalb von wenigen Stunden die Stadt, drängten in den Präsidentenpalast ein und verkündeten ihren Sieg.4
Was passierte nach 2021?
Die Menschen leiden unverändert unter der Schreckensherrschaft der Taliban. Frauenrechte werden im übertragenen Sinne mit Füßen getreten und täglich werden Menschen ihrer Freiheit beraubt. Neben den humanitären und ökonomischen Katastrophen wird das Land zudem von ökologischen Krisen heimgesucht. Was tut die internationale Gemeinschaft, damit sich die Lage nicht weiter verschlimmert?
Bereits 2002 wurde die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan, kurz UNAMA, gegründet. Mit dem Auftrag, die Bevölkerung und die Institutionen Afghanistans bei der Verwirklichung von Frieden und Stabilität zu unterstützen und zwar im Einklang mit den in der afghanischen Verfassung verankerten Rechten und Pflichten.2
Am 29. August 2022 tagte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in seiner 9118. Sitzung über die Lage in Afghanistan.6 Anwesend waren neben den Delegierten der Mitgliedsstaaten auch der amtierende Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für Afghanistan Markus Potzel, der als Sprecher von UNAMA agierte, um über die aktuelle Lage zu berichten. Er erklärte, dass die Praxis der Taliban durch Dekrete und politische Entscheidungen zu regieren grundlegende Menschenrechte und die Freiheiten, insbesondere der Frauen und Mädchen beschnitten haben.
Potzel unterstrich, dass Afghanistan derzeit das einzige Land der Welt ist, welches Mädchen das volle Recht auf Bildung verweigert. Außerdem wies er darauf hin, dass die Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger:innen, Journalist:innen und Medienschaffende in Kombination mit den Auswirkungen „umfassender politischer Maßnahmen der de-facto-Behörden“ eine abschreckende Wirkung auf die Medienfreiheit und den zivilgesellschaftlichen Aktivismus haben.
Er betonte, dass ein nachhaltiger Dialog zwischen den Taliban, anderen afghanischen Akteuren, der Region und der internationalen Gemeinschaft unabdingbar ist, da die Zukunft des Landes davon abhängt, dass die Bedürfnisse der afghanischen Bevölkerung erfüllt, ihre Rechte gewahrt und die Vielfalt des Landes in allen Regierungsstrukturen berücksichtigt werden.
Nachdem alle Delegierten ihre Briefings vorgelesen haben, steht fest, dass sie sich uneinig über den optimalen Umfang des internationalen Engagements gegenüber den Taliban sind. Ein Konsens, ob man mit den Taliban zusammen arbeiten soll oder nicht, kam nicht zustande.
Der Sprecher der russischen Föderation beispielsweise sprach sich für eine Zusammenarbeit aus. Andere Föderationen wie die USA positionierten sich klar dagegen.
Das Ergebnis der Sitzung: Stärkung der humanitären Hilfe.
Die Taliban wollen einen Platz in der Weltgemeinschaft. Die Bedingungen für solch einen Platz sind jedoch klar definiert und bauen insbesondere auf die Achtung und Wahrung der Menschenrechte.
Ob und wie die internationale Gemeinschaft in Zukunft mit den Taliban umgeht und ob sie es schafft, Afghanistan aus den Fängen dieser zu befreien, bleibt unklar. Der Widerstand in Afghanistan formiert sich. Es bleibt abzuwarten wie sich die Situation entwickelt.
Der Sprecher der Afghanischen Föderation appellierte, dass man den Afghanen zuhörend bei ihrem Prozess begleiten und es ermöglichen muss, dass sie einen Dialog untereinander führen.
Die Bürgerinnen und Bürger Afghanistans müssen das Recht zurück bekommen, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Sie haben ein Recht auf ein Leben in Frieden und Freude. Die Frauenrechte müssen genauso geschützt werden wie alle anderen Menschrechte. Es liegt nun an der Weltgemeinschaft, sie bei ihrem Weg in eine sichere Zukunft zu unterstützen.
Übersicht:
Aufgrund der undurchschaubaren Situation ist es schwer zu bestimmen wie viel Menschen ihr Leben im Krieg gelassen haben. Laut dem Journalisten Ahmed Rashid starben seit 2001 ungefähr 69 000 afghanische Soldaten und Politiker, 2400 US- Militärangehörige und 1100 Soldaten aus NATO-Ländern, 444 humanitäre Helfer:innen und 75 Journalist:innen.
Empfehlungen: Arte Dokumentationsreihe – Afghanistan: Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban
Quellen:
1 Bpb/Bundeszentrale für politische Bildung (2011): Taliban. Link: https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/36377/taliban/.
2 UNAMA (2022): Mission Statement. Link: https://unama.unmissions.org/mission-statement.
3 Rashid, Ahmed (2022): Taliban, die Macht der afghanischen Gotteskrieger. München: C.H. Beck.
4 Spiegel (2021): Taliban töten Angehörigen eines Deutsche-Welle Journalisten. https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-taliban-toeten-angehoerigen-eines-deutsche-welle-journalisten-a-a8f38b4e-9f31-490b-a97f-841d0d6bb88c.
5 Tagesschau (2022): Link: Frauen müssen ihr Gesicht verhüllen. Link: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-burka-103.html.
6 United Nations (2022): The situation in Afghanistan – Security Council, 9118th meeting. Link: https://media.un.org/en/asset/k1g/k1g16krs6q.